Das Pietà-Fenster von Thomas Bayrle im Kreuzgang des Klosters Eberbach
Formation, Fabrikation, Kommunikation, Technologie, Religion und Gesellschaft bestimmen das Credo von Thomas Bayrle, der sich erstmals in seinem mehr als 60-jährigen Kunstschaffen mit dem Medium Glas auseinandergesetzt hat.
Das Prinzip der Vervielfältigung zu seriellen Formen nicht nur auf ästhetischer, sondern auch auf religiöser Ebene, beschäftigt Thomas Bayrle, Jahrgang 1937, schon seit vielen Jahren. Ausgehend von seinem persönlichen Lebensweg,[1] zeigt sich seine Faszination für die Phänomene Massenbewegungen und Industrieproduktionen, die er mit unterschiedlichen Drucktechniken experimentell übersetzte, seit Mitte der 1960er Jahre.
Zuvor machte Thomas Bayrle eine dreijährige Ausbildung zum Weber und Musterzeichner für industrielle Massenware von Textilien bei der Firma „Gutmann“ in Göppingen. Hier arbeitete er an Maschinen mit Jacquardeinrichtung, die die endlose Herstellung von Mustern beliebiger Form mittels Lochkarten ermöglicht. Diese Datenträger waren wiederum wesentlich für die Entwicklung des Computers, die Thomas Bayrle bis heute verfolgt.[2] Sein künstlerischer Ausgangspunkt mit Zusammenfügen verschiedener Elemente zu einer Einheit und die daraus resultierende Vernetzung im eigentlichen Sinne des Wortes liegt somit in dieser Zeit begründet. Seitdem bewegt sich seine Arbeitsweise zwischen den Polen des Analogen und des Digitalen.
Einem internationalen Publikum wurde Thomas Bayrle durch seine Teilnahmen an der „documenta“ in Kassel 1964 und 1977. 2012 ließ er aus der Installation von acht Auto- und Flugzeugmotoren liturgische Gesänge und monotone Äußerungen von Andacht und Fürbitten des Rosenkranzes ertönen, die er in verschiedenen Kirchengemeinden seines Frankfurter Wohnortes zuvor aufgenommen hatte.
Ikonen industrieller Massenproduktion
Inspiriert von der Repetition sowohl trivialer Alltagsgegenstände als auch Gebrauchsgüter im Werk von Andy Warhol, beeinflusst durch die optical art Victor Vasarelys und seine Bewunderung für computergenerierte Rapporte, machte Thomas Bayrle konsequent die Addition und Multiplikation des Einzelelementes zu seinem Metier. Bezeichnete Adolf Loos zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Ornament aufgrund der Rationalität seiner Herstellungsweise als ein „Verbrechen an der Volkswirtschaft“ und befürchtete mangelnde Wertschätzung handwerklicher Fähigkeiten und pekuniäre Geringschätzung,[3] verweist auch Thomas Bayrles Massenornamentik, oder besser gesagt seine Ornamente der Masse, auf Mechanismen des Kapitalismus. Entgegen Vertretern des „Kritischen Realismus“[4] versteht er Kumulationen beliebig reproduzierbarer Embleme jedoch nicht als Kritik an der Gesellschaft, sondern als Momentaufnahmen unserer Kultur.
Seit den 1970er Jahren setzt sich der mehrfach ausgezeichnete Maler, Grafiker, Objekt- und Videokünstler, Verleger, Autor, Illustrator und Lehrer an der Frankfurter Städelschule mit dem Medium der Telekommunikation auseinander. Der Siebdruck „Telefonbau Normalzeit“ beschreibt mit rudimentärer Grafik das Porträt eines Mannes mit Seitenscheitel, gebildet aus Telefonen mit Wählscheibe und Knochenhörer. Diese formieren als Relikte (ehemals) moderner Technik eine erkennbare Physiognomie vor einem horizontal bzw. vertikal ausgerichteten Fond, dessen Ordnungsprinzip durch Synchronität entsteht.[5]
Großinstallation
Die technische Entwicklung des Telefons verarbeitete Thomas Bayrle 2017 in der Fußbodengestaltung des Wiener Museums für angewandte Kunst (MAK). Hier konzipierte er die in Blautönen gehaltene, temporäre Installation „iPhone meets Japan“ nach einem erotischen Farbholzschnitt von Nishikawa Sukenobu (1671-1750) aus der Zeit um 1720 und verknüpfte somit den reproduzierbaren Holzschnitt mit dem Konsumprodukt des (inzwischen) portablen Telefons. Die monumentale Erscheinung des Liebespaares, das sich dem traditionellen Duftspiel hingibt, wurde als Digitaldruck auf Kunststoff übertragen. Mobiltelefone in differenten Formaten mit weißen Rahmen und blauen Displays formieren auf schwarzem Hintergrund die Protagonisten, voluminöse Gewänder und Architekturbestandteile. Selbst die für das sinnenreiche Spiel erforderlichen Attribute sind ablesbar. Die Szenerie der zur Schau gestellten Intimität von Mann und Frau, die aufgrund des Formates jedoch erst aus großer Distanz sichtbar wird, ist frei von Missbilligung moderner Konsumgüter, sondern vielmehr als rationale Anschauung der Gegenwart im Kontext hochtechnologischer Massenprodukte zu lesen.
Monumentaltapisserien
Zeitgleich entstanden im „Atelier Patrick Guillot“ im französischen Aubusson zwei großformatige Wandbehänge. Nach Thomas Bayrles digital erarbeiteten Vorlagen wurde die 1498/99 von Michelangelo aus Marmor geformte Pietà detailgetreu auf monumentale Webstoffe übertragen. Hiermit bezieht sich der hessische Künstler selbstbewusst auf den Meister der Renaissance und auf eine der bekanntesten ikonographischen Darstellungen. Als Sohn einer promovierten, protestantischen Kunsthistorikerin in einer katholischen Gemeinde in der Nähe von Bad Orb aufgewachsen, erlebte Thomas Bayrle nicht nur sakralen Ritus in seiner Kindheit, sondern kam auch früh mit christlicher Kunst in Berührung, die ihn seitdem beschäftigt.
Anlässlich der Eröffnung der elsässischen Gedenkstätte Hartmannswillerkopf ließ Bayrle zu Ehren der gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges einen 460 x 460cm großen Wandteppich mit dem Titel „Pietà Word War I“ – man beachte das Wortspiel – in der Region Limousin anfertigen, wo bereits seit sechs Jahrhunderten Tapisserien an großen Webstühlen in kollektiver Handarbeit entstehen. In der Rhythmik der Webmaschinen und ihrem permanenten Lärmpegel fand der Künstler seine Dramaturgie für dieses eindringliche Andachtsbild zur deutsch-französischen Verständigung.
Aus den traditionellen Materialien Seide und Leinen sowie dem modernen Polyester formierten Weber mit unzähligen schwarz-weißen Totenköpfen die zentrale Darstellung der Mater Dolorosa, wodurch die Miniaturierung der Bildobjekte der Monumentalität der Tapisserie gegenübersteht. Mittels Vervielfältigung eines der prominentesten Vanitassymbole der Kunstgeschichte, einer apokalyptischen Ansicht gleich, trägt Maria als Sinnbild für die zahllosen trauernden Mütter ihren leblosen Sohn auf dem Schoß. Ihre Körper sind aus einheitlich großen Totenköpfen formiert, während Schädel in variierenden Formaten und Verzerrungsstadien bündig aneinanderschließen und so das üppige Gewand Marias bilden. Erst durch die Ordnung des Fonds wird die Plastizität erkennbar und die Isometrie der Figuren hervorgehoben.
Die betonte Monotonie des seriell arrangierten Flächengrundes erinnert an die Massengräber des Krieges, verdichtet zu einem Bild der meditativen Trostlosigkeit. Somit entwickelt sich das christliche Symbol der Pietà als Voraussetzung für das ewige Leben in einem menschenverachtenden Zusammenhang. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass erst durch die massenhafte Produktion von Waffen die verheerenden Ausmaße von weltweitem Kriegsgeschehen möglich werden, wie uns tagtäglich durch die Massenmedien vor Augen geführt wird. Der demonstrative Algorithmus anonymisierter Schädel des entindividualisierten Völkermordes auf dem Schlachtfeld soll auch junge Menschen zu einem Dialog zwischen technologischen Fortschritt und Glaube und nicht zuletzt zur Auseinandersetzung mit Leben und Tod sowie der eigenen Verantwortlichkeit anregen.
In derselben französischen Werkstatt wurde innerhalb von sechs Monaten ein weiteres großformatiges, jedoch buntes Andachtsbild hergestellt. Farbabweichungen und in der Handarbeit begründete kleine Unebenheiten der weißen, schwarzen, blauen, grünen und beigefarbenen Fäden aus Seide, Leinen, Baumwolle und Naturviskose machen die Materialität des Stoffes haptisch greifbar und verleiten den Betrachter* zur „Tuchfühlung“ mit dem Werk. Entsprechend des Titels „iPhone Pietà“ wird Michelangelos berühmtes Vorbild nun durch moderne Kommunikationsgeräte in überwiegend diagonaler Ausrichtung gebildet. Vereinzelte Elemente erscheinen bewegt vor diffusem Bildgrund und durchbrechen die ornamentale Textur.[6]
Textilbanner
In einer weiteren Variante der Pietà präsentierte Thomas Bayrle anlässlich einer Ausstellung in der Matthäuskirche seiner Geburtsstadt Berlin das 2013/14 entstandene Textilbanner mit einem 370 x 370cm großen Digitaldruck in Schwarz-Weiß. Aus dem Symbol des Kreuzes erscheint das Vesperbild vor kreisrundem Hintergrund, der durch eine radiale Ausbreitung gebildet wird. Marias jugendschönes Gesicht tritt deutlich hervor und betont so die Irrationalität ihres scheinbar gleichaltrigen Sohnes. Die Multiplikation des Christussymboles verweist erneut auf die Vielzahl der Mütter, die um ihre (im Krieg) verstorbenen Söhne trauern. Weiße Kreuze innerhalb eines durchlöcherten schwarzen Quadrates summieren das Ornament, dessen Details nur bei genauer Betrachtung erkennbar werden.[7]
Diese Beispiele zeigen, wie Thomas Bayrle seine persönlichen Erfahrungen aus der Textilindustrie mit christlicher Ikonographie verbindet und sie auf verschiedene künstlerische Techniken transformiert. Auch der aus Düren stammende Hermann Gottfried (1929-2015) erlernte zunächst das Zeichnen von Teppichmustern, bevor er sich seit Ende der 1950er Jahre dem Medium Glas verschrieb und seitdem mit Kirchenfenstern im überwiegend norddeutschen Raum ein umfangreiches Œuvre schuf.[8] Demgegenüber übertrug Thomas Bayrle die Haptik des geschmeidigen Tuches auf das spröde Material Glas erstmals im Jahre 2020. Die Übertragung seines erprobten Zeichenduktus auf das Genre Glasmalerei gelingt in dem dreiteiligen, bis zu 265cm hohen Wandausschnitt im Kreuzgang des ehemaligen Zisterzienserklosters Eberbach.
Kloster Eberbach – Erfahrungsort der Transzendenz
Die im Naturpark Rhein-Taunus gelegene Anlage nahe Eltville am Rhein geht auf Bernhard von Clairvaux zurück, der im Februar 1136 dieses Kloster unter dem Patrozinium der Maria Immaculata gründete. Dessen wechselvolle Geschichte begann bereits wenige Jahre nach der Errichtung: Blühender Weinbau einerseits und in der Reformation begründete Kriege andererseits, sowie wirtschaftlicher Aufschwung und Besetzung durch französische Truppen mit Schatzungen und Einrichtung von Lazaretten während des 17. und 18. Jahrhunderts folgten, bis das Kloster im September 1803 schließlich per Dekret aufgelöst wurde. Wertvolles Inventar ließ man deportieren und die Verglasung des Kreuzganges demontieren. Nach der Säkularisation wurde eine Haft- und später eine Heilanstalt eingerichtet. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr das Kloster eine vermehrte touristische Nutzung. 1998 wurde die gesamte Abteianlage in die gemeinnützige „Stiftung Kloster Eberbach“ überführt und 2008 in die Liste der schutzwürdigen Kulturgüter aufgenommen. Heute dient Kloster Eberbach kulturellen Veranstaltungen mit Hotel und Gastronomiebetrieb. Im Museum ist das älteste erhalten gebliebene Glasfenster der deutschen Zisterzienserkultur aus der Zeit um 1180 zu sehen.[9]
In Abstimmung mit dem Landesamt für Denkmalpflege plante die „Stiftung Kloster Eberbach“ die künstlerische Verglasung eines Wandausschnittes im Kreuzgang, die zwischen der schlichten Klarheit des zisterziensischen Weltbildes und modernem Kunstverständnis vermitteln sollte. Als erster Künstler wurde Thomas Bayrle, der sich nach eigener Aussage[10] schon lange für die mönchische Lebensweise interessiert, um einen Entwurf gebeten[11] und entwickelte daraufhin seine erste Skizze in enger Zusammenarbeit mit der Glasmalerei-Werkstatt. Finanziert durch Spenden, unter anderem von Privatpersonen und der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau, fand im Oktober 2020 die Einweihung statt.[12]
In einem aufwendigen Herstellungsverfahren entwickelt sich die komplexe Bildstruktur zwischen dem dreibahnigen Fenster mit gotischem Maßwerk, zwei Kreisscheiben und einem Zwickel auf der Westseite des Kreuzganges. Diese Arkadenumgänge wurden im nördlichen Europa aufgrund klimatischer Bedingungen bauzeitlich üblicherweise mit klaren Scheiben versehen. Darüber hinaus verfügte Anfang des 12. Jahrhunderts Bernhard von Clairvaux, dass Zisterzienserklöster mit einem bescheidenen Form- und Farbvokabular auszustatten sind. Diesem Codex entsprechend, reduzierte Thomas Bayrle die Bildmittel und verschob zudem die komplexe Farbpalette auf die des charaktervollen Blaus.
Als Grundlage seines Konzeptes wurden 8mm starke, transparente Trägerscheiben aus Sicherheitsglas verwendet, die Durchblicke zulassen. Je nach Blickwinkel scheinen die grüne Vegetation, die rötliche Architektur, der blaue Himmel oder Silhouetten der Besucher* hindurch. Diese optischen Interaktionen machen das Verschwinden und Erscheinen zu Prämissen dieses Monumentalwerkes.
Auf die mit Lack versehen Floatglasscheiben wurden zahllose Rahmen einzelner Mobiltelefone aus Glas in drei verschiedenen Blautönen appliziert. Auch die Echtantikglasscheiben für die jeweiligen Displays wurden digital zugeschnitten, integriert und mit Plottfolien versehen. Diese Elemente heben den Bildraum in die dritte Dimension und bewirken das Phänomen eines kinetischen Effektes.
Nach Stufenätzungen wurden die Folienreste abgezogen, vorstehende Kanten abgeschliffen und die einzelnen Teile mittels eines transparenten Zweikomponentenklebers aufgeklebt, wodurch auf Bleiprofile verzichtet werden konnte.[13] Der Überfang zeigt nach außen und erzielt so eine besondere haptische Wirkung. Der Betrachter* fühlt sich nachgerade zu einer körperlichen Berührung aufgefordert, wodurch dieses Glasgemälde zu einem sinnlichen Erlebnis gesteigert wird. Maschinell reproduzierte Artefakte werden so zu handwerklich individuell gefertigte Wiederholungen stilisiert. Als gelernter Handwerker weiß Thomas Bayrle die hochwertige Umsetzung seiner Entwürfe wertzuschätzen.
Frühwerk – Spätwerk – Vermächtnis
Die Verdichtung der Motivik erfolgt im Zentrum des Bildgeschehens als bewegendes Aperçu. Unzählige Mobiltelefone durchfluten unsere Zeit und bilden auch in diesem Bildfeld vibrierende Wogen, wie zudem das gesprochene Wort seismographische Wellen schlägt. Maria, die als Mutter Christi bis heute eine besondere Verehrung durch die Zisterzienser erfährt, betrauert nicht nur den Verlust ihres Sohnes, sondern weiß zugleich um seinen Auftrag. Ihre Körper verschmelzen miteinander und gehen so eine visuelle Kommunikation ein. Manche Handy-Applikationen erscheinen realitätsgetreu, während multiple Verzerrungen mitunter comicartig anmuten. Durch Verschiebungen der Realitätsebenen entsteht ein fließender Übergang von Funktionalität und Ästhetik, Ökonomie und Religion.
Ein banaler, vermeintlich selbstverständlicher Gegenstand wird assimiliert, zu einem bekannten Bildschema verdichtet und gleichzeitig zur Arabeske aufgelöst. Die Repetition des portablen Telefons als uniformes Raster ist als Verweis auf monastisches Leben mit seiner Regelmäßigkeit und Strenge zu deuten. Das Ideengut der zisterziensischen Glaubensgemeinschaft wird auf diese Weise mit Maximen unserer heutigen Industriegesellschaft in Zusammenhang gebracht.
Das Handy, ein Prestigeobjekt unserer Zeit, erhält seinen Wert als Kommunikationsmedium in dieser Arbeit jedoch nicht durch Überhöhung, sondern durch die Selbstverständlichkeit seiner Existenz.[14] In dieser Präsenz versteht sich Thomas Bayrle als Botschafter, Jugendliche sowohl für moderne Kunst als auch für die Kultur der Zisterzienser zu interessieren. „Im iPhone steckt das ganze Leben“ betont Helke Bayrle.[15] Es ist eben nicht nur ein Mittel zur Kontaktaufnahme und des Austausches, sondern mit den Fotoaufnahmen auch ein Medium der Erinnerung. Smartphones sind Begleiter unserer Gegenwart und dienen den Besuchern* dieses Klosters zudem als Audioguide. Trotz dieser Multifunktionalität sollen und müssen wir Konsumenten* nach Aussage des Künstlers unsere Ruhe darin finden.
Thomas Bayrles Auseinandersetzung mit Mechanismen des Kapitalismus und des Kommerzes zeigte sich frühzeitig in der Wiederholung verkleinerter alltäglicher Bildmotive und ihrer Übertragung auf transparente Medien. Bereits 1967 ließ er der Pop Art entlehnte uniforme Darstellungen von Tassen mit Untertassen, die zu den ersten Massenprodukten des 19. Jahrhunderts zählen, auf durchsichtige Plastikmäntel drucken.[16] Auch Regenmäntel mit Abbildungen identischer grüner Schuhe darauf wurden industriell produziert und in Kaufhäusern für „kleines Geld“ angeboten. Damit zeigt das Fenster im Kloster Ebersbach eine stringente Entwicklung und logische Konsequenz eines vorläufigen künstlerischen Höhepunktes.
Durch Kompensation der Bildmittel auf Kernaussagen der christlichen Ikonographie entstand in dem Kreuzgang eine architekturgebundene Kunst, die sich in die Anatomie des Raumes einfügt. Thomas Bayrle zollt dem historischen Ort mit seiner jahrhundertealten Architektur Respekt und konfrontiert den Betrachter* dennoch mit der Frage, welche Haltung er selbst zum Thema Leid, Verlust und Trauer in unserer technologisierten Zeit im Allgemeinen und während der derzeitigen, von Krisen erschütterten Phase im Besonderen einnimmt.
Der Künstler vernetzt die spannungsgeladene Dialektik von Immanenz und Transzendenz mit Tradition und Modernität. Transparenz und Opazität werden ebenso auf den Kopf gestellt wie der Ausdruck von Farbkraft und Monochromie. Und schließlich bestimmt die visualisierte Vereinigung von Kunst und Kommerz in Bildkörper und Bildraum die Chiffren in Thomas Bayrles Gesamtwerk, kulminierend im Pietà-Fenster des Kloster Eberbach.
[1] Bereits sein Vater Alf Bayrle (1900-1982) begleitete ethnologische Expeditionen in Äthiopien und fotografierte bzw. zeichnete Gegenstände der dortigen Alltagskultur.
[2] Seit den 1980er Jahren setzt Thomas Bayrle die Computertechnologie für seine Entwurfsentwicklungen ein. Damit zählt er ebenso wie die renommierten Glasbildner Jochem Poensgen (geb. 1931) aus Soest und Joachim Klos (1931-2007) aus Nettetal zu den ersten, die die Möglichkeiten dieses neuen Mediums erkannten und traditionelle handwerkliche Techniken mit christlich unterlegter, computergenerierter Kunst des Informationszeitalters synchronisierten.
[3] Adolf Loos, „Ornament und Verbrechen“, in: ebd. Sämtliche Schriften in zwei Bänden, hg. von Franz
Glück, Wien/München 1962, S. 279f.
[4] Vgl. Sighard Neckel (Hg.), Kapitalistischer Realismus. Von der Kunst zur Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 2010.
[5] Abb. in: Thomas Bayrle. Muster Zeichner. Pattern Designer, Ausst.-Kat. Museum für Angewandte Kunst. Wien, hg. von Christoph Thun-Hohenstein, Nicolaus Schafhausen und Bärbel Vischer. zweisprachige Ausgabe, Wien 2017. S. 91. In dieser Zeit entstand ebenfalls die Graphik „Christel von der Post“. Auch hier entwickeln Verdichtungen ein nachvollziehbares Brustbild. Der serielle Hintergrund wird jedoch von einer blauen Fläche abgelöst. Abb. in: ebd., S. 87.
[6] In der Technik der Acrylmalerei auf Karton, Digitaldruck auf Leinwand thematisierte Thomas Bayrle bereits 2016 Michelangelos Pietà mit dem Untertitel „Plastische Autobahn auf Totenköpfen“, indem er das Totenkopfmotiv mit different applizierten Autos verbindet. Abb. in: Wien 2017 (wie Anm. 5), S. 72.
[7] Einem weiteren christlichen Motiv wandte sich Bayrle 2014 in verschiedenen Drucktechniken zu. Die thronende Maria mit dem Kind und zwei Engeln des Meisters der Heiligen Magdalena aus der Zeit um 1270 diente ihm als Vorlage. Vgl. Tomas Bayrle (Hg.), Madonnas, Frankfurt am Main 2014.
[8] Hermann Gottfried. Andere Welten, Ausst.-Kat. Deutsches Glasmalerei-Museum Linnich, Bönen 2004.
[9] Jürgen Kaiser u. Josef Staab, Das Zisterzienserkloster Eberbach im Rheingau, Regensburg 2000.
[10] Gespräch der Verfasserin mit Thomas Bayrle am 13. März 2021.
[11] Seine Auseinandersetzung mit Architektur zeigt sich u.a. in der Arbeit „Gotischer Schinken“ (1980). Inspiriert vom Werk des Soziologen Siegfried Kracauer (1889-1966), der das „Ornament der Massen“ mit den Strömen organischer Ansammlungen wie Städtebilder oder Menschenbewegungen bei Großveranstaltungen aus der Vogelperspektive betrachtet, verflechten sich mehrspurige Autobahnen zu multiperspektivischen Formationen gotischer Gewölbe. Vgl. Siegfried Kracauer, Ornament der Massen, mit einem Nachwort von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1977.
[12] Die Verfasserin dankt Melanie Besecke, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Kloster Eberbach, für Ihre Informationsbereitschaft.
[13] Für die Erläuterungen zur handwerklich-technischen Umsetzung des künstlerischen Entwurfes bedankt sich die Verfasserin bei Magdalena Loos und Maximilian Niehaus, Glasstudio Derix Taunusstein.
[14] Vgl. Amalia Barboza, „Die Überhöhung des Alltags“, in: Christian Neddens u.a. (Hg.), Spektakel der Transzendenz. Kunst und Religion in der Gegenwart, Würzburg 2017, S. 127-146.
[15] Gespräch der Verfasserin mit der Ehefrau des Künstlers am 13. März 2021.
[16] Abb. in: Wien 2017 (wie Anm. 5), S. 57.